AI und die Renaissance der Menschlichkeit

21. January 2024|18 Minutes|In MISC

The Fear of Missing out vs. the Fear of  F*#ng up

Es ist schon ein paar Monate her,

ich war gerade dabei, mir einen Clip der Stanford University anzuschauen. Ilya Sutskever, Co-Founder und Chief Scientist von OpenAI plauderte in seiner bedacht kontrollierten Art aus dem digitalen Nähkästchen und neusten Strickmustern der künstlichen Intelligenz, als mein Unterbewusstsein unvermittelt einen Satz in meinen Kopf promptete:

“Wenn alles so bleiben soll wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert”.

Meine Faszination für die gute alte analoge Art des Denkens wurde wieder einmal bestätigt. Fasziniert, dass mein inneres, biologisches Large Language Model seine allegorische Suchroutine im Unterprogramm erfolgreich ausführt, und gleichzeitig überrascht einen längst vergessen geglaubten Satz so unaufgefordert in mein Bewusstsein gebeamt zu bekommen, lies ich den Stanford-Clip plaudern und ging, ganz altmodisch via GOOGLE den empfangenen Worte nach.

Es handelte sich um ein Zitat aus dem Roman “Der Leopard” von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, bezogen auf den Wandel und den Verfall in der sizilianischen Aristokratie des 19. Jahrhunderts. Der Protagonist, Fürst Fabrizio di Salina, erkennt, dass sich die Welt um ihn herum verändert, und dass, um seine Macht und seinen Einfluss zu erhalten, er sich selbst verändern muss. Auch wenn er lieber an den bestehenden Strukturen festhalten würde. Ich dachte über das Paradoxon nach, das so passend die menschliche Verunsicherung, der technischen Disruption in unserer Zeit zu erfassen schien.

Sicher, die Tatsache, dass Kontinuität Anpassung braucht, ist in einer exponentiell beschleunigten Welt ein echter No-Brainer. Veränderung, bleibt die konstante Dynamik des Lebens. Alles Neue zwingt zum Begreifen, verleitet zum Verändern, verführt zum Bewahren. Und so ist das, was im alten Sizilien die liberale Bourgeoisie war, in unserer neuen digitalen Realität die Demokratisierung der künstlichen Intelligenz. Früher hieß die Forderung „Contenance“, heute „dynamische Stabilität“. Im Endeffekt das gleiche Muster.

Und doch hat sich etwas grundsätzlich verändert.

Vor unseren Augen vollzieht sich eine fantastische wie beängstigende Transformation. Waren es früher Tugenden wie menschliche Intuition, Kühnheit und genialer Erfindergeist, die zu neuen Technologien, innovativen Lösungen und prägenden Fortschritt führten, entwickeln sich heute Large Language Models (LLMs) zu neuen Autoritäten, gelenkt von wenigen Netokraten. Sollte der Mensch also besorgt sein?

Wer die Gefahr nicht ernst nimmt, hat die Kraft der Technik nicht verstanden.

Die AI-Karriere ist atemberaubend. ChatGPT verzeichnetet im Januar 2023, nur zwei Monate nach dem Start, über 100 Millionen monatlich aktive Nutzer. Das macht AI zur am schnellsten wachsenden Verbraucheranwendung in der Geschichte der Menschheit. Zum Vergleich: Facebook brauchte viereinhalb Jahre, also 27 mal so lange, um diese Grenze zu knacken. Das ist dagegen Stillstand.

Es scheint, als erfülle die künstliche Intelligenz einen tiefen, archaischen Wunsch der Menschheit. Ist es die Erlösung der Denkfaulen, oder deren moderner Scheiterhaufen? Wie schrieb Oscar Wild: “Wenn Gott die Menschen strafen will, erhört er ihre Gebete.” Im Dezember 2023 verzeichnet ChatGPT 2,4 Milliarden aktive Konten. Ohh my god!

FOMO vs. FOFU

Die weltweite Explosion der AI-User unterstreicht die virulente Ansteckungskraft von Denk-Convenience. Sie dokumentiert den FOMO-Herdentrieb (Fear of missing out) bedingungsloser Optimisten, gewinn-getriebener Investoren und effizienz-getriebener Unternehmens-Lenker ebenso wie Fear of Fucking Up -getriebener FOFUisten die sich in apokalyptische Untergangs-Fantasien stürzen. Und so beginnt die Frühzeit der Abundance gleich mit einer Fülle von Angst. Angst, den Anschluss zu verpassen, Angst das intellektuelle Primat zu verlieren und manchmal auch einfach die Angst davor, die Angst zu verlieren.

Wer tiefer denkt, stellt tiefere Fragen:

Was ist mit einer freien Presse, Medien und Bildung? Haben wir nicht guten Grund, um den Verlust von Wahrheit und Vertrauen aufgrund von Desinformation zu fürchten. Wie bekommen wir Deepfakes und Fake News in den Griff

Was ist mit den Schurken? KI rüstet auch die „Bad Players“ mit gratis Präzisions-Werkzeugen aus, um Desinformation im großen Stil zu generieren. Werden Algorithmen, die es uns ermöglichen, Fakten von Fiktion, Wahrheit von Desinformation zu trennen, rechtzeitig verfügbar sein?

Was ist mit der Vernichtung von Jobs? Wenn AI den Markt für qualifizierte Arbeitskräfte in naher Zukunft verdampfen lässt, lassen wir eine ganze Generation von Hochschulabsolventen ratlos zurück. Mischen wir diese emotionale Dosis mit dem Trauma der COVID-19-Pandemie könnte das der neue Super-Sprengstoff für soziale Unruhen in westlichen Industriegesellschaften sein.

Und wie halten wir unsere Gegenspieler davon ab dieses Pulverfass zu zünden? Fragen, die umso drängender werden, je mehr das Tempo der KI-Entwicklung zunimmt.

Umarme die Zukunft – fürchte sie nicht.

Aber war es nicht immer so? Schon immer hat Technologie den Fortschritt der Menschheit beflügelt und dabei unser Leben massiv verändert. Von Gutenbergs Druckerpresse über Watts Dampfmaschine bis hin zur digitalen Revolution – Jedes Mal führte der Beginn einer neuen technischen Ära zum Ende traditioneller Berufsbilder und Erwerbsmodelle. Aber kann uns diese Erklärung halbwegs beruhigen?

Wohl noch nie ging eine exponentielle Entwicklung, eine von Technik oder Erkenntnis gehebelte, tiefgreifende Veränderung ohne Angst und Zweifel einher. Doch diesmal ist es dramatischer. Die Dimensionen sind weiter, das Bild am Horizont unklar und die Visionen krasser.
Die Kernfrage: Wie umarmt man das Unbekannte? Vielleicht erst einmal mit sehr viel Respekt.

Wir werden im kommenden Jahrzehnt mehr Veränderungen erleben als im gesamten vergangenen Jahrhundert.

Die Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz, werden tiefgreifende Auswirkungen auf nahezu allen Bereichen unseres Lebens haben. KI verändert nicht nur die Art und Weise, wie wir Aufgaben angehen und wie wir Probleme lösen, sie verstärkt die Hebelwirkung unserer Lösungsqualität exponentiell. Das ist nichts Schlechtes, aber es macht einen rationalen, einen emotionalen und einen ethischen Unterschied. Und dieser transformiert sich in Angst und Zweifel.

Fest steht, ein demokratisierter AGI-Zugang wird unsere normative Realität nicht umgestalten – er wird sie in Fetzen sprengen und die Ruinen den Historikern zur Denkmalspflege überlassen.

Vom Homo Sapiens zum Homo Obsoletus?

Maschinen lösen Denk- und Gestaltungsaufgaben effizienter und zuverlässiger als der Mensch. Hier geht es um mehr als um eine frische, innovative, neoromantische Beziehungskiste zwischen Mensch und Maschine. Es geht um die Frage der Entmachtung und ihrer Folgen. Es geht an die Substanz. Es geht um die Krone der Schöpfung. Es geht um uns. Um eine massive Verletzung unseres Selbstwertgefühls, deren transformativer Verlauf noch völlig offen ist.

Wie geht der Mensch, mit der hohen Wahrschinlichkeit um, so unsanft vom Tron in die potenzielle Überflüssigkeit geworfen zu werden? Macht das Modell Mensch in Zukunft noch effizienten Sinn?
Vielleicht können wir aus unserer Geschichte lernen. Schließlich ist es ist nicht das erste Mal, dass ein massiver Fortschritt dem Menschen in seinem Selbstverständnis tief gekränkt hat, wie uns der Philosoph Anders Indset so treffend vor Augen führte. Mit der »kosmologischen Kränkung« fing jene Serie schmerzlicher Erkenntnisse an, die Sigmund Freud als »narzisstische Kränkungen« der Menschheit bezeichnete.

Bereits Nikolaus Kopernikus sorgte 1543 mit der Erkenntnis „die Erde ist nicht das Zentrum unseres Universums“ für einen echten Absturz unseres Planeten im Ranking der kosmischen Mittelpunkte. Eine Tatsache, die jedoch den Weg für bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckungen und revolutionäre Technologien freimachte: von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie bis hin zur Quantentheorie, von der Raumfahrt bis hin zum James Webb Teleskop.

Auch Charles Darwin sorgte 1859 mit der Erkenntnis „Wir sind nicht nach Gottes Ebenbild geschaffen!“ für einen Faustschlag in den Magen unseres kollektiven Egos – aber der wissenschaftliche Punch schuf Raum für Erkenntnisfortschritt und bedeutende neue Technologien, etwa für Gentechnik und die Entschlüsselung des menschlichen Genoms.

Sigmund Freud stellt 1890 fest: Wir lassen uns von unbewussten Trieben und Gefühlen stärker leiten als von rationalen Überlegungen! Die Geburt der Psychoanalyse war sicherlich zunächst keine einfache Erkenntnis für ein vernunftorientiertes, aufklärerisches Weltbild. Aber sie begründete eine Tatsache, die in ihrer Essenz Platz machte für gewaltige Erkenntnisfortschritte und Innovationen, vor allem in der Medizin und Psychologie.

Copernicus, Darwin and Freud, Arm in Arm created by Dall E, prompted by the author 😉

Und jetzt das:

Wir verlieren in absehbarer Zukunft den Spitzenplatz der denkenden Klasse. Die ultimative intellektuelle Kränkung, der Menschheit. Stellt sich die Frage, welchen Fortschritt, welchen Wert und welchen Gewinn können wir aus dieser Niederlage ableiten?

Auf dem Weg in die Zukunft überfluten wöchentlich neue Startups den Markt mit neuen AI-Anwendungen. Dabei entwerfen sie neue, Lösungen, wecken neue Bedürfnisse, machen unser Leben einfacher, bequemer, gesünder, effizienter, perfekter und digital-optimierter. Die ständige Iteration und das unentwegte Füttern von LLMs, beschleunigt die Beschleunigung und verkürzen die Reise zur vielleicht ultimativ vorletzten Stufe der menschlichen Innovation.

Singularität.

Der Zeitpunkt, an dem Maschinen erstmals intelligenter sein werden als der Mensch, wird so weitreichende wie unabsehbare Auswirkungen haben und dieser Zeitpunkt ist nicht mehr fern.   Geht es nach Ray Kurzweil, Googles Director of Engineering, einem Mann mit einer atemberaubenden Treffergenauigkeit, was technische Zukunftsvoraussagen angeht, wird die technologische Singularität, also die Verschmelzung von Mensch und künstlicher Intelligenz, voraussichtlich bis zum Jahr 2045 erreicht werden.

Futuristen und Technologie-Experten spekulieren, dass diese “post-singuläre” Ära von einer noch nie dagewesenen menschlichen Evolution geprägt sein könnte, in der die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwimmen und neue Formen des Bewusstseins und der Existenz entstehen könnten. Fest steht, spätestens dann wird es keine rein menschlichen Erfindungen mehr geben. Wird dann alles besser? Noch haben wir etwas Zeit, die gefährlichen Auswirkungen der Entwicklung zu steuern, ethische, soziale und sicherheitsrelevante Fragen vor der Verschmelzung von Mensch und Maschine zu klären. Die entscheidenden Routinen der zukünftigen Betriebssysteme der Menschheit sorgfältig mit ethisch-moralischen Codes of Conduct zu impfen. Es geht um mehr als Benutzerfreundlichkeit, Tempo und Stabilität. Es geht um die Absturzsicherheit der Menschheit. Vielleicht sollten wir Microsoft von diesem System fernhalten!

Auf dem Weg in die Zukunft überfluten wöchentlich neue Startups den Markt mit neuen AI-Anwendungen. Dabei entwerfen sie neue, Lösungen, wecken neue Bedürfnisse, machen unser Leben einfacher, bequemer, gesünder, effizienter, perfekter und digital-optimierter. Die ständige Iteration und das unentwegte Füttern von LLMs, beschleunigt die Beschleunigung und verkürzen die Reise zur vielleicht ultimativ vorletzten Stufe der menschlichen Innovation.

Endstation?

Ein Kernaspekt der Singularitätsidee ist sicherlich die Unvorhersehbarkeit ihrer Folgen. Dies macht es schwer, Aussagen über das “Danach” zu treffen.

Je deutlicher jedoch digitale Technik unser Leben beeinflusst, je stärker spüren viele Menschen eine Energie der Rückbesinnung. 

Erwacht da eine archaische Kraft, die in uns schlummert, eine ausgleichende Gegenbewegung, eine neue, alte Sehnsucht nach menschlicher Wahrhaftigkeit? Je näher wir der Singularität kommen, desto reflexartiger steigern die exponentiellen Veränderungen vermutlich auch die Sehnsucht nach Menschlichkeit im Menschen. Vielleicht liegt hier nicht die berechtigtste Hoffnung des unverbesserlichen Humanisten!?

Bewahren ist Qualitätssicherung.

Wenn das Bewahren von menschlichen Werten wie Mitgefühl, Empathie, Gerechtigkeit und Fehlerkultur mit der Artificial Intelligence verschmelzen sollte, wäre das nicht auch eine Form von Singularität.  Menschliche Werte werden zum Anker des kulturellen Überlebenswillens im disruptiven Sturm ständig neuer Innovationen. Eine archaische Ur-Qualität, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind – und was uns davor bewahrt, was wir möglicherweise werden könnten, – überflüssig.

Tech Transformations-Saurier: Agfa Ultra Rapid Film  / Foto von Annie Spratt auf Unsplash

Im ständig Neuen, suchen wir nach dem Echten.

So überlebten nicht nur Retro-Design, Analoge Fotografie, Plattenspieler und Handgeschriebene Notizbücher. Es entstehen auch digitale HiFi-Wandler, die analoge Klänge simulieren, sowie Sportwagen mit zuschaltbaren Soundchips, die den digital kultivierten Sechs-Zylinder-Motor ein charmant analoges Rotzen in den Auspuff boosten. So rasen wir in eine neue märchenhafte Welt, im der es heißt „Es war einmal“.  Und wenn sie nicht gestorben sind, prompten sie noch morgen.

Vielleicht erleben wir eine Zukunft, in der unsere kleinen Schwächen und Fehlbarkeiten nicht mehr als Makel betrachtet, sondern als Zeichen authentischer Echtheit geschätzt werden. Ja, sogar gewünscht sind. Werden wir dann „Quirky-Products“ wie den AI-Voice-Assistants mit zuschaltbarem Lispeln, furzende Roboter oder Präsentations-Bots mit automatisierter  Präsentationsangst bekommen?

Warten wir es ab, feststeht: Menschlichkeit erblüht nicht in Perfektion. Hätte unser Schöpfer es so gewollt, er hätte am sechsten Tage Roboter programmiert. Der Mensch bleibt menschlich nicht trotz, sondern durch seine authentischen Fehler. Der Grund dafür ist einfach:

Wir sind Säugetiere, soziale Wesen, wir suchen die Gegenwart des Echten, Warmen, Authentischen, Sinnlichen und gerne mal, die Erfahrung des etwas Falschen.

Die Hoffnung:

Ob Artificial Intelligence die intellektuelle Kränkung der Menschheit ist, liegt an uns. Es ist die Frage, wie wir damit umgehen. Fest steht, wir befinden uns in einem historischen, existenziell relevanten Momentum deren transformativer Verlauf noch offen ist.

Die Optionen sind binär: Disruptiert AI das Modell Mensch, oder birgt sie die große Chance des vielleicht bedeutendsten Erkenntnisfortschritts des 21. Jahrhunderts? Positives, nachhaltiges Wachstum erfüllt sich nicht in einer technischen Übermacht in den Händen weniger. Sondern in einer menschlich gesteuerten Wissens- und Erfahrungsgesellschaft. Die Antwort liegt in der Qualität unseres Zugangs zu Wissen, Erfahrung und Gemeinschaft. Und um der absoluten Grenzen, der man dieser Technologie setzt.

Geht es um die Renaissance der Menschlichkeit, so geht es um die Förderung einer Gesellschaft des Verstandes, einer Kultur des Austauschs, der Erfahrung, des Teilens, des Begreifens und der Empathie. Wenn uns KI dabei hilft, sind wir schneller auf dem richtigen Weg. Vielleicht würde Giuseppe Tomasi di Lampedusa heute schreiben:

“Wenn alles so werden soll wie es könnte, dann ist es nötig, dass manches so bleibt wie es war”.

Nur wenn wir unsere eigenen Werte, Gefühle, Entscheidungen und Erfahrungen als oberstes Leitbild unserer Individualität bewahren können, kann AI für den Menschen zu dem fantastischen Werkzeugkasten werden, den wir uns wünschen. Vollgepackt mit Gestaltungsoption einer lebenswerten, besseren reicheren Zukunft dezentralisiert zur Verfügung gestellt für alle Menschen. Eine Entwicklungschance, die in unseren eigenen Händen liegt.

Noch.